Initiation auf dem Pfad der Weisen Frauen

Die schamanische Zerstückelung und die Verschmelzung mit dem Licht – Initiation auf dem Pfad der weisen Frauen
In der schamanischen Tradition der weisen Frauen ist der Weg der Einweihung kein sanfter Spaziergang, sondern ein tiefgreifender Wandlungsprozess. Es ist ein Pfad, der durch Dunkelheit und Schmerz führt, durch Auflösung und Hingabe – und schließlich zur Wiedergeburt im Licht. Zwei zentrale Stationen dieses Weges sind die schamanische Zerstückelung und die Verschmelzung mit dem Licht – uralte Initiationserfahrungen, die sich im Herzen des spirituellen Erwachens wiederfinden.
Die Zerstückelung – Sterben, um zu werden
In vielen schamanischen Überlieferungen erscheint die Zerstückelung als der Moment, in dem das alte Selbst stirbt. Die Suchende – oft in Form einer schamanischen Reise oder in der Vision – begegnet Kräften, die sie symbolisch „zerreißen“, sie auseinandernehmen, in alle Einzelteile. Dieser Prozess ist grausam aus Sicht des Egos, denn hier wird alles genommen, was wir zu sein glaubten. Rollen, Masken, Illusionen – all das wird abgestreift wie alte Haut. Es ist ein Tod ohne Grab, ein Übergang ohne Rückfahrkarte.
In der Tradition der weisen Frauen wird diese Zerstückelung nicht gefürchtet, sondern erkannt als heilig. Denn in der Auflösung liegt die Möglichkeit, sich neu zu formen. Die Knochen, das letzte, was bleibt, tragen das uralte Wissen. Aus ihnen webt die Seele sich neu. Wie die Knochensammlerin in den alten Mythen, die die vergessenen Fragmente der Wilden Frau zusammensucht, so beginnt die Wiedergeburt in der Tiefe unseres Inneren.
Die Lichtverschmelzung – Erleuchtung als zweite Geburt
Nach der Dunkelheit kommt das Licht – doch auch das Licht fordert seinen Preis. Die Verschmelzung mit dem Licht ist die zweite Schwelle. Wenn das Ich so sehr durchlichtet wird, dass es keine Schatten mehr werfen kann, dann lösen sich selbst die subtilsten Formen von Getrenntheit auf. Dies ist kein angenehmer Lichtspaziergang, sondern eine ekstatische, manchmal überwältigende Erfahrung: das Ich brennt in der Begegnung mit der Quelle, mit der reinen Schöpfungsenergie.
Es ist eine Erfahrung der Erleuchtung – aber nicht im Sinne eines erreichbaren Zustandes, sondern als eine Einweihung, als tiefe Rückverbindung mit dem, was größer ist als wir selbst. Diese Lichtverschmelzung ist nicht das Ziel des Weges, sondern ein neuer Anfang. Die Weise Frau kehrt zurück aus dem Licht – nicht mehr geblendet, sondern durchstrahlt. Sie trägt das Licht nun in der Welt, nicht um zu belehren, sondern um zu erinnern.
Die Ikarus-Analogie – Die Warnung vor Hochmut und die Kraft der Demut

Die Geschichte von Ikarus erzählt von einem Jungen, der mit selbstgebauten Flügeln aus Wachs der Sonne zu nahe kommt und schließlich ins Meer stürzt. Viele lesen diese Geschichte als Warnung vor Übermut. Doch aus schamanischer Sicht offenbart sich hier eine tiefere Wahrheit: Ikarus strebte nach dem Licht, ohne vorbereitet zu sein. Er flog zu schnell, zu hoch – ohne die Zerstückelung erfahren zu haben, ohne das Dunkle in sich zu kennen.
Der Weg der weisen Frauen kennt diese Gefahr: Wer nur dem Licht folgt und das Dunkel vermeidet, riskiert, vom Licht verbrannt zu werden. Die Sonne ist gnadenlos, wenn wir ihr mit einem unintegrierten Selbst begegnen. Erst wenn wir bereit sind, uns in der Dunkelheit zu verlieren – in den Unterwelten unserer Seele – können wir wahrhaft mit dem Licht verschmelzen, ohne daran zu zerbrechen.
Initiation im schamanischen Sinne
Die Zerstückelung und die Lichtverschmelzung sind nicht nur symbolische Erlebnisse – sie sind Initiationen, Prüfungen, Tore. In der schamanischen Tradition der weisen Frauen sind sie heilig. Die Frau, die diese Schwellen überschreitet, wird zur Mittlerin zwischen den Welten. Sie trägt die Wunden des Sterbens und das Strahlen des Lichts gleichermaßen. Aus dieser tiefen Erfahrung wächst echte Weisheit: eine Weisheit, die aus Demut geboren wird, aus Hingabe und aus dem Mut, sich selbst zu verlieren, um der Welt als Heilerin, als Seherin, als Schamanin neu geboren zu werden.
Der Weg der Weisen Frau – ein Kreis von Tod und Licht

Auf diesem Weg wird das Leben selbst zum Ritual. Jeder Schmerz ein Lehrer, jede Dunkelheit eine Geburtskammer, jedes Licht ein Spiegel unserer Göttlichkeit. Die Zerstückelung lehrt uns die Kunst des Sterbens, die Lichtverschmelzung die Kunst des Werdens. Beide zusammen bilden den inneren Kreis der Einweihung – einen Kreis, der sich immer wieder schließt, denn der Weg der weisen Frau ist nie zu Ende.
Mögest du den Mut finden, dich zu verlieren.
Mögest du das Licht finden, das dich erinnert.
Mögest du dich wieder zusammensetzen –
als die, die du immer warst.
In Liebe, im Kreis der Ahninnen,
eine Schwester auf dem Weg.